Schluss-Plädoyer von Dr. Paul Schulz. Urteil

Einleitung
1.   Stationen aus der Geschichte des Konfliktes
2.   Marginalen zum Verfahrensablauf in Hannover
3.   Anmerkungen zu dem Gutachten von Herrn Prof. Dr. von Weizsäcker.
4.   Brückenschläge zwischen den widerstreitenden theologischen Positionen.
5.   Dimensionen allgemeiner gesellschaftlicher Umbrüche. 
_________________________________________________________________
Urteil 

 

Teil 2. Marginalien zum Verfahrensablauf in Hannover

Den Vorsitzenden zu finden für dieses Spruchkollegium war bekanntlich sehr schwierig. Schließlich hat sich Herr Bischof Hübner aus Kiel bereiterklärt, dies Verfahren zu leiten. Ich habe damals Herrn Hübner abgelehnt – nicht nur wegen der diffamierenden Aussagen, die er schon im voraus über meine Theologie gemacht hatte, wenngleich allein sie schon seine Befangenheit auswiesen. Vielmehr ging es mir um einen Punkt, den ich Ihnen hier zur Problematik der Gesetzesvorlage deutlich machen will.

Ich halte die Vorschrift des Gesetzes für sehr fragwürdig, dass die Kirche, die die Anklage stellt, vier Vertreter in das Spruch­kollegium schicken kann. Das macht nämlich bei sieben Leuten im Spruchkollegium schon über die Hälfte der Mitglieder aus. Wenn die anklagende Kirche, die ein solches Verfahren einleitet, zu­gleich die Mehrzahl der Richter stellt, drängt sich unausweich­lich die Problematik der Inquisition auf: Der Ankläger ist zu­gleich als Richter in der Überzahl. Wenn nun damals mit Herrn Hübner auch noch ein Nordelbischer Bischof im Spruchkollegium Vorsitzender geworden wäre, dann wäre der Zwang der Inquisition noch größer gewesen. Man müsste also entgegen der jetzigen Praxis in diesem Lehrbeanstandungsverfahren eine grundsätzlich andere personelle Zusammensetzung des Spruchkollegiums festlegen, damit nicht eine Gliedkirche überrepräsentiert, sondern die VELKD als Gesamtkirche präsentiert ist. Bei der Novellierung des Gesetzes von 1956 wäre dies aus meiner Erfahrung ein wichtiger Erneuerungs­punkt – einfach zur Versachlichung des Verfahrens und damit zum Schutz des Betroffenen.
Ich habe mich gefreut, dass schließlich Herr Bischof Lohse den Vorsitz dieses Spruchkollegiums übernommen hat – sowohl als Pro­fessor kundig in der wissenschaftlichen Theologie, als auch als Bischof erfahren in der gemeindlichen Frömmigkeit. Ich erwähne diese doppelte Qualifikation, weil das ein Hauptproblem meiner eigenen theologischen Existenz ist, nämlich – darüber werde ich nachher noch etwas sagen – die Problematik, mich einerseits als Theologe der wissenschaftlichen Theologie verpflichtet zu wissen, andererseits als Pastor auf gemeindliche Frömmigkeit bezogen zu sein.

Es hat sehr früh hier in Hannover Gespräche zwischen Herrn Bischof Lohse und mir gegeben mit dem Ziel, dies Verfahren in letzter Minute abzuwenden. Konkrete Lösungen wurden nicht erreicht – die Gründe dafür möchte ich hier nicht im Einzelnen darlegen. Ich erwähne diese Gespräche nur, um ganz unmissverständlich deutlich zu machen, dass wir schließlich aus Prozeßzwängen heraus nicht anders konnten, als hier gegen einander anzutreten. Ich meine, es liegt ausschließlich an der Hartnäckigkeit der Hamburger Landeskirche, dass wir hier in einem solchen juristischen Verfahren aufeinanderprallen. Es wäre dem Geiste, in dem Herr Bischof Lohse und ich erste Vorgespräche geführt haben, viel adäquater gewesen, die anstehenden Probleme zwischen theologischer Wissenschaft einerseits und gemeindlicher Frömmigkeit andererseits in pastoraler Existenz auszutragen.
Das Gesetz schreibt vor, dass ein Vertreter im Spruchkollegium von dem Betroffenen benannt wird. Ich habe Herrn Prof. Stegemann ausgewählt, weil uns beide über das Verfahren hinaus zwei Sach­bezüge verbinden: einmal Methode und Inhalt der Qumranforschung, die ganz sicher eine wesentliche Voraussetzung der Jesusforschung ist, und zum anderen die Jesusforschung selber. Es war mir wichtig, hier einen Mann zu benennen, der gerade von der neutestamentlichen Forschung her zur Methodik des theologischen Denkens wesentlich hätte etwas sagen können – „hätte“, denn ich hätte mir gewünscht, dass von Herrn Professor Stegemann in unserem Kreis hier häufiger die Grundstrukturen der neutestamentlichen Wissenschaft, wie sie heute in allen Fakultäten getrieben wird, klar vorgeführt worden wären. Hätte Herr Professor Stegemann so agiert, dann hätte hier rein methodisch ein anderes Gespräch laufen können.
Das Gesetz schreibt weiter vor, dass sich der Betroffene einen Beistand wählen kann – einen theologischen oder einen juristischen, das bleibt ihm anheim gestellt. Wegen des Neuartigen dieses Verfahrens habe ich mich für eine juristische Assistenz entschieden: Herrn Dr. Barrelet. Ich bin über diese Wahl sehr froh, denn es ist ja deutlich geworden, dass dieses Verfahren als Präzedenzfall gerade durch ihn eine Fülle juristischer Klärungen erfahren hat.

In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen für die zukünftige Gestaltung der Gesetzesvorlage noch dies zu bedenken geben: Für das Selbstverständnis des Betroffenen ist es schwierig, dass sein ihn verteidigender Beistand von der beklagenden Kirche nicht finanziell getragen wird. Praktisch muss der Beistand -anders als die Mitglieder des Spruchkollegiums – auf „goodwill“ oder auf Entgelt von dem Betroffenen seine Verfahrensarbeit leisten – gerade dann, wenn das Verfahren für den Betroffenen negativ ausgeht. Für die Verfahrenssicherheit des Betroffenen wäre es leichter, wenn nicht nur die Mitglieder des Spruchkolle­giums ihren Arbeits- und Sachaufwand vergütet bekämen, sondern auch der Beistand des Betroffenen, zumal ja gerade dieser Bei­stand in großem Umfang Zeit und Engagement für dieses Verfahren investieren muss.
Zur Thematisierung des Verfahrens: Ganz ohne Frage sind in allen Stufen des Verfahrens seit 1973 eigentlich immer die gleichen Themen als kontrovers angesprochen worden – die Gottesfrage, die christologische Frage, die ekklesiologische Frage, die Frage nach der Ethik, die Frage nach Tod und ewigem Leben. Wir verhandeln hier also im Grunde gar keine neuen Fragen, sondern – alle Protokolle weisen das aus – Fragen, über die wir schon immer offen und unmissverständlich geredet haben. Es war für mich von Anfang an völlig unzweifelhaft, auch in diesem Kreis hier ganz offen meine Meinung darzulegen und kein Versteck zu spielen.
Zur Klarlegung meiner theologischen Positionen hätte es allerdings keiner langen Fragen und Antworten bedurft. Denn schließlich habe ich in meinem ersten Buch „Ist Gott eine mathematische Formel?“ ausführlich meine theologische Position dargelegt und in meinem zweiten Buch „Weltliche Predigten“ diese Position ausgebaut und eigentlich in allen Punkten bestätigt. Beide Bücher sind als in­dizierte Texte offiziell zur inhaltlichen Grundlage unserer Ver­fahrensgespräche erklärt worden. Auf Ihre Frage, ob ich zu den Aussagen dieser Bücher stehe, antworte ich uneingeschränkt mit Ja.
Warum aber – und da bin ich Ihnen eine Erklärung schuldig – warum ist dann immer wieder von mir so lang und ausführlich geredet worden – offenbar zur erdrückenden Erfahrung mancher Journalisten, die meine Rhetorik beklagt haben? Ich meine, nicht um meinen Standpunkt zu verschleiern. Der liegt ja eben ganz eindeutig vor. Vielmehr habe ich in allen Antworten, die Protokolle mögen das ausweisen, eines versucht: Unsere unterschiedlichen Stand­punkte in Verbindung zu bringen, in irgendeiner Weise Brücken zu schlagen, Entwicklungslinien aufzuzeigen. Theologie ist ja eben ein Gedankenprozess – gerade auch in den letzten 150 Jahren. Da hat nicht plötzlich einer eine Idee da vorn, sondern er steht in wesentlichen ideenpolitischen Verbindungen nach hinten. Will man das scheinbar Nahe verstehen, dann muss man die Brücke der Entwicklung, muss man die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge aufzeigen, einsichtig machen.
Viel wichtiger als das Festschreiben einzelner Positionen ist das Offenhalten der Gedankenbewegung. Was ich wollte, ist Seite für Seite im Protokoll nachlesbar: Über einen statischen Stand­punkt hinaus, den ich natürlich genauso habe wie Sie, gedankliche Abläufe zur Sprache bringen, verständlich machen, akzeptierbar werden lassen. Ich wollte nicht eine Preisgabe von Standpunkten erreichen, sondern Brückenschläge sichtbar werden lassen, kontro­verse Punkte in ein gedankliches Netz einspinnen, damit man auf­einander hin transparent wird. Gerade angesichts unterschiedlicher Positionen ging es mir nicht um Herstellung bekenntnismäßiger Identität, sondern um das Erreichen denkerischer Solidarität.
Das ausgeprägte Bedürfnis zum offenen Denken habe ich bei meinen vielen Vorträgen in der letzten Zeit immer wieder erfahren: Menschen, die mit mir ins Gespräch gekommen sind, zeigen große Lust an der geistigen Fülle der Theologie. Es ist doch ein immenser Schatz an Gedanken, der in der abendländischen Geistesgeschichte auch jenseits unserer konfessionellen Formulierungen in den letzten 2.000 Jahren entwickelt worden ist. Diesen in sachgemäßer Weise zur Kenntnis zu nehmen und zu geben, das war der Versuch meines oftmals langen Argumentierens. Die Beschäftigung mit der Fülle der Theologie ist auch wie eine Therapie. Sie steht gegen die geistige Verarmung auf Konfirmandenunterrichtsniveau, indem man sich einlässt auf die großen theologischen Denkmodelle der Vergangenheit und auch der Gegenwart. Deshalb eben nicht ein vorschnel­les Beharren auf festen Positionen, sondern das Offenhalten des denkerischen Neuansatzes. Deshalb immer wieder die Aufhebung alter Positionen, um überhaupt das Risiko des Denkens wagen, um Erfahrungen mit dem Denken machen zu können. Meine ganze Art zu denken bedeutet also nicht, alte Dogmen aufzuheben, um sofort neue Dogmen aufzustellen, sondern den Menschen dahingehend freizusetzen, überhaupt neu nachzudenken, ja, selbständig zu denken. Keineswegs — • das bitte ich als Missverständnis auszuschalten – um inhaltlich im Schwammigen nicht greifbar zu sein – dafür sind meine Positi­onen viel zu eindeutig benannt und festgestellt worden – sondern um die Offenheit des Denkens immer erneut als menschliche Quali­tät zu praktizieren.

An dieser Stelle erwähne ich noch einmal den Sinn meiner neun theologischen Fragen an den Lehrsenat. Ich hatte Ihnen ja diese neun sehr genau durchdachten Fragen vorgetragen. Denn auf all diese Problemfelder, die ich da benannt habe – Gebet, Jungfrauen­geburt, Auferstehung, Bibel, Zehn Gebote, Endgericht, Weltent­stehung, Leben nach dem Tod, Erbsünde – bezieht sich fraglos unser theologischer Disput dergestalt, dass die Kirche meint, ich würde von der offiziellen Lehrmeinung abweichen, und müsste deshalb vom geistlichen Amt eines Pastors entbunden werden.
Nun muss ich zwangsläufig, – das gehört zur Logik des Redens mit­einander – fragen: Wovon weiche ich eigentlich ab? Bitte, benen­nen Sie mir doch, von welcher Lehrmeinung der evangelisch-luthe­rischen Kirche ich abweiche. Was ist denn in diesen neun Punkten die Lehrmeinung der ev.- lutherischen Kirche? Denn ein Abweichen ist doch erst in dem Augenblick feststellbar, wenn klargemacht ist, wovon abgewichen wird. Eben dazu meine neun Fragen nach der Lehrmeinung der Kirche.
Nun wurde mir hier bedeutungsschwer erklärt, eine solche offizi­elle Lehrmeinung könne es in unserer Kirche nicht geben, denn eine feste Lehrmeinung stehe gegen den evangelischen Glaubensbe­griff. Das Wesen der lutherischen Dogmatik läge eben in der Offen­heit des Glaubens.
Nun war diese Aussage für mich ja keineswegs neu, wenngleich die Art, wie sie mir vorgetragen wurde, so hätte aussehen können. Eigentlich aber wollte ich genau diese Aussage herauslocken: In der evangelisch-lutherischen Kirche gibt es keine festgelegte Lehrmeinung. Und eben dies haben wir ja denn auch von dem Lehrsenat deutlich gehört -, ist gleichsam per Senatsbeschluss des Lehramtes festgestellt.
Dann aber – das ist nun mein ganz einfacher nächster und letzter Schritt – dann gibt es auch nicht eine fundamentale Abweichung von einer Lehrmeinung, wenn es die nämlich gar nicht gibt. Bestenfalls gibt es unterschiedliche Interpretationen der christ­lichen Botschaft, verschiedenartige Verständnisse, verschiedene Ziele der Aussagen. Aber: Gibt es keine Lehrmeinung, gibt es keine Lehrabweichung. Dann aber verliert dieses Verfahren letzt­lich seine theologische Berechtigung, weil es ganz grundsätzlich keine Lehrabweichung feststellen kann. Ein Verfahren zur Fest­stellung einer Sache, die es gar nicht gibt, ist ein Unsinn in sich.
Nun ist an dieser Stelle von Herrn Bischof Lohse ein Begriff ins Spiel gebracht worden, den ich in meiner ganzen theologischen Arbeit noch nie gehört habe, der sogenannte „magnus consensus“. Also den gibt es offenbar. Nun müsste ich zwangsläufig meine Fra­gen neu stellen. Wenn behauptet wird, es gäbe einen magnus con­sensus, dann möge man mir zu meinen neun Fragen nicht die Lehr­meinung der Kirche benennen, sondern den so genannten magnus consensus. Was ist also der magnus consensus der evangelisch-lu­therischen Kirche in Deutschland zu meinen Fragen 1 – 9? Ich stelle hier fest: Dazu ist ein magnus consensus bisher nicht benannt worden.
Solange mir dieser Begriff nicht genau definiert und gesagt wird, was magnus consensus ist, behalte ich mir demgegenüber folgende Meinung vor: Der magnus consensus ist so etwas wie die „Volksmeinung1 – etwa zur Todesstrafe, das „gesunde Volksempfinden“. Magnus consensus als theologische Kategorie gibt es deshalb nicht, zumindest ist eine einfache Konstatierung eines magnus consensus schon von der Begriffsdefinition für unsere Gespräche unzureichend, ja falsch. So verschwommen kann man sich aus dem Dissens der Mei­nung nicht herausdrücken. Ich stelle deshalb noch einmal meine neun Fragen an dieses Gremium: Was ist und wie lautet der magnus consensus in all diesen neun Fragen? Beantworten Sie sie nicht, haben Sie wieder einmal in Vorspiegelung falscher Tatsachen nichts als leere Behauptungen aufgestellt.

Wo der magnus consensus direkt hergestellt werden könnte, unter Theologen der wissenschaftlichen Theologie nämlich, etwa in der neutestamentlichen Forschung, da weicht er wesentlich von dem ab, was der magnus consensus in der Gemeinde zu sein scheint. Nach welchem magnus consensus werde ich hier eigentlich beurteilt? Nach dem magnus consensus der Theologen an den Universitäten, auf den ich mich berufe, oder nach dem magnus consensus irgend­welcher Gemeindefrömmigkeit? Ich stelle hier die Behauptung auf: Der magnus consensus der modernen Theologie steht ganz unmissverständlich in Richtung meiner theologischen Position. Die Feststel­lung von Herrn Lohse, ich stünde gegen diesen magnus consensus, widerspricht an allen Stellen den Positionen der modernen theolo­gischen Wissenschaft.
Meine Haltung gegenüber diesem Spruchkollegium ist damit deutlich: Ich will keine Gnade. Ich habe deshalb nicht die Absicht gehabt -und werde es weiterhin nicht tun – mich besonders freundlich zu verhalten, um gleichsam Ihr Wohlwollen zu erreichen. Ich habe mich hier nicht herzitiert. Sie haben als Kirchenleitung diesen juristischen Konflikt heraufbeschworen. Sie sollen auch damit Fertigwerden. Ich habe überhaupt keine Veranlassung, Sie hier an irgendeiner Stelle zu schonen. Ich habe rechtzeitig angekündigt, dass ich mitten im Verfahren die Fronten umdrehen werde. Sie sind für mich die eigentlich Angeklagten als Kirche. Sie haben hier etwas angezettelt, aus dem Sie sich mit windigen Formulierungen nicht herausschleichen können. Sie werden letztlich wieder viele Menschen, die nach den zukünftigen Perspektiven der christlichen Botschaft fragen, leer laufen lassen, indem Sie einerseits behaup­ten, Sie wüssten es eigentlich grundsätzlich, andererseits aber jede konkrete Antwort umgehen.
Ich will deshalb keine Gnade, ich will mein Recht als lutherischer Pastor. Lutherische Pastoren haben sich seit über 400 Jahren eben nicht auf Papisten oder Konzilien berufen, sondern letzten Endes auf ihr eigenes theologisches Gewissen in der Nachfolge Jesu. Was Luther einer anmaßenden Papstkirche abgesprochen hat, das spreche ich sinngemäß einer anmaßenden Kirche Luthers ab. Eine Kirche, die eine solche Entscheidung trifft, wie sie im Negativen bevorsteht, wird nicht mehr unsere lutherische Kirche sein, die Kirche des freien Gewissens des einzelnen Geistlichen.
Deshalb geht es überhaupt nicht um meine Person hier, selbst wenn in letzter Zeit kolportiert wurde, das ganz Verfahren sei letztlich nichts anderes als das Showgeschäft eines eitlen Pastors. Letztlich sei das also mehr ein Fall für Psychologen als für Theologen. Sehen Sie, in den Presseveröffentlichungen zu dem Brief von Herrn Pastor Grell heißt es sofort in der Be­urteilung: Grell – Brokdorfpastor, Russell-Tribunal-Pastor. Damit hat die öffentlich machende Meinung dem Pastor gleich einen Schlag mitgegeben, so dass er für ganz bestimmte Kreise von vornherein disqualifiziert ist. So ist es bei vielen Pastoren in Hamburg immer wieder passiert, dass von der theologischen Sache abgelenkt wurde, indem die Schlaglichter auf Nebenprobleme geblendet wurden.
Nun ist das bei Schulz immer sehr schwer gewesen, weil der mit den typischen Etiketten wie „links“ oder „Brokdorfpastor“ nicht einzufangen war – bis zu dem Augenblick, als Findige auf das erlösende Stichwort kamen: Eitel ist der Mann. Theologie spielt bei dem gar keine Rolle. Letztlich ist das alles nur Mache der eigenen Person. Damit versuchten seitdem insbesondere eine Reihe von Journalisten, um die theologische Diskussion, die wir hier nun seit Jahren führen, herumzukommen. Gerade liberale Zeitungen, die derzeit mit Lessing eine Rakete nach der anderen ab­feuern, leisten sich da in der konkreten Auseinandersetzung die letzten Heuler.
Nun leugne ich überhaupt gar nicht, dass ich einen bestimmten Sinn für ästhetische Formen und Lebensart habe – vielleicht haben muss. Aber darüber wird hier nicht geurteilt. Es geht hier an gar keiner Stelle um die Beurteilung meiner charakterlichen Vorteile und Nachteile. Das steht hier nirgends zur Diskussion. Selbst wenn ich noch viel eitler wäre, als ich bin, wir sind nicht in einem Disziplinarverfahren. Es geht hier ausschließlich um theologische Sachfragen, die nun seit Jahren zwischen der Amtskirche und mir umkämpft werden, also um die Frage, ob eine Theologie, wie sie Schulz vertritt, Gültigkeit in unserer Kirche haben kann oder nicht – ganz abgesehen von seiner Person.

Deshalb geht es jetzt, wenn ich ein Wort zu dem Herrn Vorsitzenden sage, nicht um das menschliche Problem des Herrn Bischof Lohse: Ich stelle fest, dass der Autoritätsanspruch, den Herr Lohse hier in den letzten Runden als Vorsitzender entwickelt hat, aus meiner Sicht das eigentliche Hauptproblem des Verfahrens geworden ist. Diesem seinem Autoritätsanspruch ist letztlich zuzu­schreiben, dass die Gesprächspositionen in fast unüberbrückbaren Fronten erstarrt sind.
Ich habe die Erlaubnis von Herrn Pastor Grell, dazu aus seinem Brief an Herrn Bischof Lohse eine Passage zu zitieren. Ich lese diese Passage zunächst vor und begründe sie dann von meiner Sicht her:
„Das ist“, so schreibt Herr Grell, „für mich eine echte Frage: Ich kann es nicht verstehen, woher ein Mensch das Recht nimmt, sich zum Herrn in dem Glauben anderer aufzuwerfen, indem er völlig willkürlich aus der großen Zahl kirchlicher Dogmen zwei (oder fünf) herausgreift, sie zu Fundamental-Dogmen erklärt und damit allem, was andere für wichtiger halten, die theologische Relevanz bestreitet, es als Ethik, Gesetzespredigt, Anthropologie usw. ab­qualifiziert … Ich schreibe Ihnen einmal auf, wie ich Ihre Aus­führungen in Hannover sinngemäß gehört und verstanden habe. Sie haben es so nicht gesagt, aber so ist die Quintessenz Ihrer Worte im kirchlichen Umfeld weithin verstanden worden:
Der Pastor hat einen Spielraum, aber ich bestimme, welche Grundlinien der biblischen Botschaft diesem Spielraum Grenzen setzen.
Der Pastor ist kein Befehlsempfänger, aber wehe ihm, er überschrei­tet den von mir festgesetzten Verantwortungsraum.
Der Pastor hat eine weite Spanne zur Entfaltung individueller Positionen, aber ich jage ihn aus dem Amt, wenn er sich dem, was ich für den magnus consensus der Kirche halte, nicht unterordnet.
Dem Pastor ist es gestattet, die historisch-kritische Methode anzuwenden und den Inhalt der biblischen Botschaft kritisch zu interpretieren, aber er verliert seine Bezüge, wenn er in seiner Theologie etwas anderes tut, als die Aussagen der Trinitäts- und Rechtfertigungslehre zu entfalten.
Der Pastor hat teil an der großen Freiheit des Redens und Denkens in unserer Kirche, aber er hat den Mund zu halten, wenn er den Auf­trag als Pastor und seine Ordinationsverpflichtung anders versteht als ich.“

Herr Bischof, Sie haben ganz sicher das Recht sich gegen diese Sätze zu wehren. Aber nehmen Sie es einmal als Eindruck von Kol­legen, die hier gesessen und das Verfahren verfolgt haben. Dieser Eindruck ist auch mein Eindruck, dass unser Gespräch in Positionen abgebrochen ist, in der eine Vermittlung durch die Gesprächslei­tung nicht mehr wirksam werden konnte. Ich möchte das aus meiner Sicht anhand der Verhandlungen begründen:
Ich habe mich in den letzten Runden immer dann vehement gegen Sie gewehrt, wenn Sie nach meinen Erklärungen – mögen sie richtig oder falsch gewesen sein – spontan immer wieder gesagt haben: Dieses steht im Widerspruch zur Lehre, Sie haben – das lässt sich aus dem Protokoll herauslesen – um viele meiner Ausführungen gleichsam eine Klammer gemacht und ein Minuszeichen davorgesetzt, bis mir dies nicht mehr erträglich schien und ich mich schließlich in zunehmender Schärfe dagegen gewehrt habe. Ich konnte doch zeit­weise reden, was ich wollte, konnte meine Position erklären – Sie waren schließlich immer schnell dabei, das Gesagte negativ zu verdrehen.
Das Gespräch mit Herrn Stegemann, das habe ich noch einmal speziell nachgelesen, beinhaltete ja die Gefahr, dass an verschiedenen Stel­len ein Konsensus hergestellt wurde zwischen einer der Personen des Spruchkollegiums und mir. Sie haben dieses Gespräch in einer Weise abgebrochen, dass dieser Konsensus nicht durchhaltbar war. Ich habe mir damals die Frage gestellt: Wollten Sie eigentlich die Möglichkeit einer Verständigung nicht aufkommen lassen?
Sie haben bei meinen neun Fragen hier autoritär behauptet, das seien überhaupt keine fundamentalen Fragen. An die Stelle gesetzt haben Sie Ihre Behauptung: Wenn der Pastor man nur an die Trinitätslehre glaubt und sie verkündigt. Woher, bitte schön, nehmen Sie eigentlich als Vorsitzender während eines Verfahrens ein solches Recht? Lesen Sie das Protokoll nach! Was berechtigt Sie, so zu agieren? Ich frage Sie jetzt nicht als Herrn Lohse, sondern als den Vorsitzenden.
An der entscheidenden Stelle der Diskussion um Auferstehung, als wir die Frage haarscharf herausgearbeitet hatten, was denn das der Verkündigung von Auferstehung Vorausgehende sei, da haben Sie keine Auskunft gegeben. Immer wieder haben Sie auf Fragen, die ich gestellt habe, eine konkrete Auskunft verweigert.

Sie haben aus meiner Sicht bei der Frage nach Schöpfung und Weltentstehung durch die Art der Zitierung des Kleinen Katechismus hier ein Niveau hereingebracht, das nicht einmal in ein theologisches Seminar passt, geschweige denn in die Grundauseinandersetzung unserer Theologie mit der modernen Welt.
Sie haben nicht einmal den Gedanken auftauchen lassen, dass sich vielleicht auch die Hamburger Landeskirche geirrt haben könnte, als sie in ihrem Urteil schrieb, ich würde ständig auf meinen Positionen beharren.
Hier, Herr Bischof, liegt in dem gelaufenen Verfahren zunehmend meine tiefe Enttäuschung und meine Sorge. Was hätten wir aus diesem Gespräch positiv machen können? Ein Beispiel dafür, in welcher Breite sich die Theologie heute für die Pluralität der Gesellschaft anbietet, ein Zeichen für die Bereitschaft, längst fällige Fragen miteinander über unseren Rahmen hinaus zur Diskussion zu stellen, damit sich möglichst viele Theologen zur Klärung beteiligen. Die Öffnung eines Gespräches also, nicht das Abschließen. Gerade kri­tischen Mensch hätten wir zeigen können, wie man ihnen Mut macht, sich auf moderne theologische Positionen zu verstehen, und wir hätten zugleich sichtbar machen können, dass das geschieht zum Schütze derjenigen, die in der konservativen Richtung andere Meinung haben. Wir hätten in eine offene Kommunikation eintreten können, wir hätten Brücken schlagen können, Konsequenzen in einem Geist des positiven Miteinanders. Ich stelle mir einmal vor, Sie selber oder ein anderer hätte mit dieser großen Linie dieses schwere Gespräch geführt: Wir wären alle hier vielleicht viel betroffener, aber auch mit ganz anderen Chancen in unsere Gemein­de zurückgekehrt.
Und dies lese ich letzten Endes auch, Herr Vorsitzender, Ihrem Schlussplädoyer ab. Scharfe Kritik trifft Sie meiner Ansicht nach schon in der Art, wie Sie dieses Schlussplädoyer eröffnet haben: „Ich möchte nun versuchen, für das Spruchkollegium noch einmal zusammenzufassen …n So haben Sie oft geredet – magnus consensus für alle. Erst spät abends erfuhr ich, dass Sie gar nicht für das Spruchkollegium geredet haben. Das Spruchkollegium hat den Text

gar nicht legitimiert, den Sie hier als allgemeine Meinung des Spruchkollegiums vorgeführt haben. Später haben Sie dies bestätigt, indem Sie relativ kleinlaut schrieben, das Schlusswort sei ja auf Briefpapier mit Ihrem persönlichen Briefkopf geschrieben, also durchweg Ihre eigene Meinung. Daran wird sichtbar, wie Sie hier als Vorsitzender manipuliert haben. Ich muss das so deutlich sagen, weil das ein wesentlicher Punkt der Auseinandersetzung ist, näm­lich die Art, wie wir hier miteinander umgegangen sind.
Sie haben auch – und das ist vielleicht das Verwunderlichste – wie selbstverständlich eine historische Querachse herstellen können zwischen der anklagenden Hamburger Kirche und Ihrem Schlussplädoyer. Mit keinem einzigen Wort über 21 Seiten haben Sie aber auch nur einen einzigen Fakt benannt, der bei allem Dissens -zwischen uns vielleicht doch von verbindender Wichtigkeit sein könnte. So reden eigentlich nur Feinde von einander, wenn sie dem anderen auch nicht einen einzigen Punkt der Solidarität zuge­stehen wollen. Dieses empfinde ich als persönliche Bedrohung durch Ihren Vorsitz.
So haben Sie auch dieses doch so ungeheuer wichtige Gutachten von Prof. Weizsäcker nur an einem einzigen Punkt zitiert, nämlich da, wo es in scharfer Kritik etwas gegen mich sagt. Das ist das einzige, was Sie diesem vielschichtigen Gutachten abgewinnen konnten. Ich frage Sie einfach mal, wo hier eigentlich bleibt, was Sie – allzumal in Eröffnungsgebeten – immer beschworen haben, nämlich das menschliche Miteinander, die Solidarität trotz allem Sachdissens. Ich halte deshalb die Art Ihrer Gesprächsführung in der letzten Runde zunehmend für das Belastende des Verfahrens. Ich hätte oft Grund genug gehabt, Sie zu bitten, aus diesem Ver­fahren auszusteigen.
In summa: Dieser Prozess droht in seinen positiven Möglichkeiten zu ersticken an der Haltung, die Sie zunehmend in letzter Zeit eingenommen haben. Ich will damit nicht sagen, dass anders eine Entscheidung für mich zwangsläufig positiver gegeben wäre. Ich will nur sagen, dass der gesamte Eindruck dieses Verfahrens hätte anders laufen können, anders laufen müssen.

Seiten: 1 2 3 4 5 6