Schluss-Plädoyer von Dr. Paul Schulz. Urteil

Einleitung
1.   Stationen aus der Geschichte des Konfliktes
2.   Marginalen zum Verfahrensablauf in Hannover
3.   Anmerkungen zu dem Gutachten von Herrn Prof. Dr. von Weizsäcker.
4.   Brückenschläge zwischen den widerstreitenden theologischen Positionen.
5.   Dimensionen allgemeiner gesellschaftlicher Umbrüche. 
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Urteil 

 

Teil 5. Dimensionen allgemeiner gesellschaftlicher Umbrüche

Theo Sommer hat am 29. Dezember 1978 in einem Leitartikel in der Wochenzeitung DIE ZEIT unter der Überschrift „Kulturkrise und Zeit­wende“ zur aktuellen Situation unserer säkularen Gesellschaft Stellung genommen. Indem er Grundentwicklungen unserer gegenwärtigen Ge­sellschaft nicht nur in der Bundesrepublik, sondern weltweit beschreibt, macht er sichtbar, wo die kritischen Punkte unserer modernen Welt liegen, etwa im „Gewissheitsverlust“ des modernen Menschen, im „Bindungsverlust“ des modernen Menschen, im „Sinnverlust“ des modernen Menschen, im Verlust der „Rechtsfertigungsfähigkeit“ des modernen Menschen.
Ganz ohne Frage steht unsere Gesellschaft heute an Wendepunkten der menschlichen Entwicklung. Die Machbarkeit des Retortenbabys, die schwarze Wolke am Kosmoshorizont, die gegebenenfalls die ganze Urknallentwicklung rückläufig macht, die Rationalisierung der Arbeit und damit die Automation unserer Gesellschaft – im Möglichen selbst liegt die Krise als Frage, wie wir mit alledem fertig werden. Das sind eben letztlich geistige Probleme, die die denkerische Infragestellung des Sinns, ja, des Metaphysischen ganz neu in Gang bringen. Wir befinden uns in unserer Gesellschaft heute in elementaren praktischen und geistigen Umbrüchen.
In einem solchen geistigen Umbruch befindet sich die Kirche auch – wie sollte es anders sein. Denn, indem die Welt umbricht, hat die Kirche in dieser Welt keine Schonzeit mehr. Auch sie ist gefordert, ihre alten Positionen zu überdenken, um mit der Welt nach vorne zu gehen. In dieser Weise sehe ich unseren Glaubensprozess als einen Prozess inmitten des Um­bruchs. Er ist insofern nichts Diffamierendes. Vielmehr ist er ein Punkt in einer Entwicklung, auf den wir von der Aufklärung her seit mindestens 150 Jahren zulaufen. Ich selber habe deutlich gemacht, dass ich über Karl Barth hinaus an dieser Perspektive festhalte: Unsere Kirche muss in dieser Zeit der geistigen Umbrüche selbst erst noch durch die Aufklärung hindurch – und damit durch die stärkste Form theologischer Infragestellung.

Deshalb meine ich dies: Sie als Spruchkollegium sind innerhalb dieser gesamtgeschichtlichen und spezifisch kirchengeschichtlichen Umbrüche nicht in der Lage, die Position von Schulz mit ja oder mit nein zu be­urteilen. Sieben Männer können nicht einfach per juristische Akklamation entscheiden, in welche Richtung sich theologische Erkenntnis heute zu entwickeln hat. Deshalb meine ich, können Sie weder gegen eine Position, noch für eine Position, wie Schulz sie vertritt, stimmen.
Eine verantwortliche Entscheidung wäre, wenn Sie selbst feststellen, dass Sie in dieser Situation kein Urteil fällen können. Das wäre den zeitge­mäßen Anforderungen angemessen. Denn reicht wirklich ein Amtsauftrag einer Kirche aus, um gleichsam auf Befehl eine Wahrheitsentscheidung zu treffen? Sollten Sie nicht den Mut haben – auch durch die Erfahrung dieses Prozesses – Ihren Auftrag an die Kirche zurückzugeben, nicht aus Verantwortungslosigkeit, sondern gerade aus Verantwortungsbewusstsein? Denn wer von Ihnen will denn ernsthaft feststellen, was in den geistigen Umbrüchen unserer Zeit die „Wahrheit11 ist? Wenn Sie sich selber in die Suche nach Wahrheit eingebunden fühlen, dann nehmen Sie selbst die Wahrheitsfindung aus der juristischen Entscheidung dieses Verfahrens heraus und geben Sie sie zurück in die Auseinandersetzung der Theologen und aller denkenden Menschen. Unsere geistige Zukunft wird nicht per Macht durch eine Institution garantiert.
Von daher komme ich zu meinem letzten Punkt, nämlich zu der Annahme, dass Sie gegebenenfalls mein gesamtes Reden von Gott als eine persönliche Bedrohung, gleichsam als einen unaufhaltsamen Sturz in den Atheismus an­sehen. Angegriffen mögen Sie sich fühlen vor allem durch die Art, wie hier religiöse Fragen mit rationalen Mitteln angegangen werden. Sie haben deutlich genug die Frage gestellt, ob so nicht der Glaube durch den Verstand in Angriff genommen wird.
Ich bestreite die Herausforderung nicht. Sie zielt darauf, die Amts­kirche ganz konkret zu fragen, wie sie es verantwortet, die Menschen heute noch immer in veralteten Bildern von Gott festhalten zu wollen. Verweigert sie insbesondere den Christen nicht, ihre Identität in der modernen Welt zu finden, indem sie sie gerade mit ihrem Gottver­ständnis in Bewusstseinsgrenzen längst vergangener Zeiten zwingt?
Wenn dagegen das neue Reden von Gott konsequent weiter und zu Ende gedacht wird, dann erweist es sich als eine großartige Möglichkeit der Neuorientierung nach vorn. „Redet der Mensch von Gott, dann redet er von sich selbst“ – das bedeutet nämlich für jeden Menschen ganz per­sönlich: Indem ich anfange, neu von Gott zu reden, beginne ich damit zwangsläufig, neu über mich selbst nachzudenken.
Ein neues Reden von Gott bedingt also ein neues Verstehen meiner selbst. Indem ich aus den alten Gottesbildern aussteige, gewinne ich neue Kon­turen meiner selbst. Ich selber vermag mich neu zu finden, wenn ich den Mut aufbringe, neu zu benennen, was für mich Gott ist. Was ich eigenständig von Gott sage, sage ich eigenständig von mir selbst.
Sich im Denken auf Gott hin selbst bewusst zu werden, wird gerade für den aufgeklärten Christen zur persönlichen Befreiung. Jesus nachfolgen, bedeutet für ihn dann nämlich nicht mehr, vom Glauben her das Denken zu verneinen, sondern gerade vom Denken her das Glauben zu bejahen. Allerdings meint Glauben dann nicht, alles mögliche Unwahrscheinliche für wahr zu halten, sondern sich als denkender Mensch wie Jesus auf seinen Nächsten hin vertrauend zu riskieren.
Praktisch aber ist eine solche Öffnung für den Christen in unserer Kirche nur schwer umsetzbar. Schon ein erster Versuch, sich eigenständig auf Gott hin zu verstehen,. zeigt immer wieder wie streng die Kirche auch heute noch ihre Mitglieder bevormundet. Denn gegen neues Reden von Gott setzt die Kirche alles daran, in Liturgie und Gebeten, in Bekenntnisaussagen und Lehrfeststellungen von Gott weiter in altherge­brachten Vorstellungen zu sprechen. Theologische Neuansätze werden von ihr mit dogmatischen Überlieferungen bewusst verdeckt, so dass das Reden von Gott nur als Reproduktion traditioneller Glaubens- und Be­kenntnisformeln möglich bleibt. Die Kirche will keinen Freiraum geben für eigenständiges Denken. Lieber lässt sie Menschen, die von dog­matischen Normen abweichende Vorstellungen haben, in geistiger Enge ersticken – oder aus der Kirche weggehen.

Warum – so frage ich – warum wehrt sich die Amtskirche so verbittert gegen jedes neuartige Reden von Gott? Warum will sie unbedingt vor­schreiben, wie der Mensch von Gott zu reden hat? Warum erhebt sie den Anspruch, allein sie als Institution Kirche repräsentiere Gott, allein sie als Institution Kirche garantiere das Reden von Gott als richtig?
Um diese Frage genau beantworten zu können, müssen wir einen Augen­blick den Zusammenhang bedenken, der zwischen einer Idee einerseits und einer Institution andererseits besteht. Von der Soziologie her ist zu begreifen, wie eine bestimmte Idee eine ihr entsprechende Institution bedingt. Die Institution ist immer auch die Repräsentanz einer Idee in festen Herrschaftsformen. So etwa, bestimmt die Idee der Demokratie Aufbau und Leben unserer Bundesrepublik. Andersherum: Die Bundes­republik versucht, in ihrer gesamten gesellschaftlichen Entwicklung, die Idee der Demokratie zu repräsentieren. Idee und Institution sind also eng aufeinander bezogen. Verändert sich die Idee, verändert sich mit der Idee zwangsläufig die institutionelle Form.
Eben so repräsentiert die Institution Kirche eine ganz bestimmte Idee, mit der sie steht und fällt. Diese Idee ist die uralte Idee von Gott als jenseitigem Wesen in Macht und Herrlichkeit. Entsprechend dieser Idee von Gott als König, als Herrscher, als Richter, als Allmächtigem beansprucht die Kirche als dessen institutionelle Repräsentanz selber irdische Macht und Autorität. Diese äußert sich nicht allein in ihrem Verwaltungsapparat, in dem hierarchi­schen Aufbau sondern vor allem eben auch in dem Anspruch, Gott sondern vor allem eben auch in dem Anspruch, Gott den Menschen gegenüber allein zu repräsentieren und das Reden von Gott allein als richtig zu garantieren.
Würde die Kirche die Machtidee von Gott außer Kraft setzen, würde sich zugleich ihre machtorientierte Institution verändern müssen. Würde sie Gott nicht mehr als allmächtigen Herrscher, sondern eben als Freund, als Bruder, als Partner predigen, dann würde dies zwangsläufig ihren Machtanspruch gegenüber den Menschen ab­bauen, ihren Hang zur Bevormundung dämmen und sie in unmittelbare Solidarität auf den Zeitgenossen hin öffnen. Bis in die letzte liturgische Formel würde sich die institutionelle Veränderung aus­wirken, denn von dieser neuen Idee her müsste in der Kirche nicht nur viel freundschaftlicher, viel brüderlicher, viel partnerschaft­licher geredet, sondern auch gehandelt werden.
Eine Veränderung der Gottesidee hätte also direkt die Veränderung der Institution Kirche zur Folge. Deshalb wehrt sich die Kirche so verbissen gegen jedes neue Reden von Gott. Deshalb fühlt sie sich durch jedes andersartige Gottesbild so angegriffen, weil sie sich damit in ihrer Machtvoraussetzung bedroht sieht. Aus Selbstschutz hält sie an ihren alten Gottesvorstellungen fest, um so ja nichts von ihrer formalen Repräsentanz aufgeben zu müssen.
Die alten Vorstellungen von Gott werden von der Amtskirche also kaum der Menschen wegen durchgehalten, auch nicht um Gottes willen, sondern zur Aufrechterhaltung ihrer eigenen institutionellen Macht. Nicht die Gottesfrage an sich interessiert die Kirche, sondern ihr eigenes Gottesbild. Die Kirche zielt weniger darauf, dass der Mensch mit Gott seine Existenz neu verstehen lernt, als darauf, dass der Mensch die Kirche anerkennt, indem er das ihr eigene Gottesbild akzeptiert.

Wann immer man nun mit der These „Redet der Mensch von Gott, dann redet er von sich selbst“ neu von Gott zu sprechen versucht, dann erscheint also der Konflikt mit der Amtskirche fast unvermeidbar. Denn es geht in der Auseinandersetzung mit der Amtskirche eben nicht allein um die Frage, wie wir heute neu von Gott sprechen können. Es geht vielmehr ganz entschieden um die Frage, ob wir überhaupt von Gott neu sprechen dürfen. Das liegt aus meiner Sicht -letztlich in dem laufenden Glaubensprozess der Konflikt zwischen der Amtskirche und mir:
– Die Amtskirche fordert von mir, die in ihren Bekenntnissen fest­geschriebene Vorstellung von Gott anzuerkennen. Würde ich zu dieser Lehre zurückkehren, würde ich damit zugleich den institutionellen Autoritätsanspruch der Amtskirche anerkennen. Das Ziel der Kirche wäre dann erreicht.
– Ich hingegen verlange von der Kirche die Freigabe der Gottesvorstellung in das Denken jedes einzelnen Menschen. Meine Absage an einen von der Kirche verwalteten Gott ist zugleich der Versuch, den Monopolanspruch der Amtskirche in Glaubensfragen aufzulösen. Damit wäre dann mein Ziel erreicht.
Deshalb ist dieser „Streit um Gott“ im Letzten aus meiner Sicht ein Kampf um die Freisetzung des aufgeklärten Menschen aus der geistigen Bevormundung durch die kirchliche Institution. Es ist ein letzter Schritt zur geistigen Emanzipation des Christen.

– Pause von 13.10 bis 15.15 Uhr –

Dr. Barrelet: Herr Vorsitzender, meine Herren des Spruch­kollegiums – wir stehen vielleicht am Ende, mindestens aber vor einer entscheidenden Zäsur dieses Lehrbeanstan-dungsverfahrens. Dieses Verfahren ist mit Engagement von allen Seiten betrieben worden – daran ist kein Zweifel -und ich glaube, das ist gut so, denn es geht ja letztlich um Fragen, die für uns alle in diesem Raum – für alle, die an dem Verfahren beteiligt sind – von existentieller Bedeutung sind, und es kann dann auch schon dem einen oder anderen – das betrifft keineswegs nur einen, was ich jetzt sage – geschehen, dass das Engagement mal mit ihm durch­geht. Mehr oder weniger ist es wohl mit allen mal durchgegangen. Dieses Verfahren wird sicherlich in die Kirchen­geschichte – jedenfalls in diejenige der VELKD – eingehen. Diese kirchengeschichtliche Dimension gewinnt freilich das Verfahren, so meine ich – und verstehen Sie das bitte richtig – nicht so sehr von seiner theologischen Substanz. Ich meine das in dem Sinne, dass die Differenzen, Dissense über alles das, was ich nachher noch im einzelnen zu sagen habe, vielleicht doch nicht ganz so groß sind, wie es zu­nächst den Anschein haben könnte, ohne dass ich damit nun alles glatt streichen und alle Meinungsverschiedenheiten etwa überspielen wollte. Ich meine, dieses Verfahren ge­winnt seine kirchengeschichtliche Bedeutung in erster Linie aus dem Umstand, dass es das erste Verfahren dieser Art seit dem Jahre 1911 und das erste Verfahren der VELKD überhaupt ist. 1911, meine Damen und Herren, regierte in Deutschland ein Kaiser von Gottes Gnaden. Man wusste noch nichts von den beiden Weltkriegen und die kirchliche Situation war in unserem Bereich die der Staatskirche. Die heutige geschichtliche Situation der Bundesrepublik Deutschland ist in ihrem Kern eine andere und für die Kirche gilt das sicherlich nicht minder. Wenn es eines Zeitraums von fast 70 Jahren bedurft hat, damit wieder einmal ein solches Verfahren durchgeführt wurde, wird man sich neben vielen anderen Prägen, die wir in diesen über ein Jahr dauernden Verhandlungen erörtert haben –

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