Schluss-Plädoyer von Dr. Paul Schulz. Urteil

Einleitung
1.   Stationen aus der Geschichte des Konfliktes
2.   Marginalen zum Verfahrensablauf in Hannover
3.   Anmerkungen zu dem Gutachten von Herrn Prof. Dr. von Weizsäcker.
4.   Brückenschläge zwischen den widerstreitenden theologischen Positionen.
5.   Dimensionen allgemeiner gesellschaftlicher Umbrüche. 
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Urteil 

 

Teil 3. Anmerkungen zu dem Gutachten von Herrn Professor Dr. von Weizsäcker

Schon während des Studiums habe ich Herrn von Weizsäcker als Professor für Philosophie in Hamburg gehört, Darüber hinaus ist jeder Theologe, der sich mit Naturwissenschaft beschäftigt, ja zwangsläufig mit den Büchern von Herrn von Weizsäcker befasst.
Als ich im Oktober 1976 als Pastor von St. Jacobi beurlaubt wurde, lud der Kirchenvorstand von St. Jacobi Herrn Professor von Weizsäcker zu einem Vortrag ein, um Schulz sozusagen auch theo­retisch „auszutreiben“. Prof. v. Weizsäcker bekam das Thema „Glaube und Naturwissenschaft“ gestellt, eben jenes Thema, um das ich mich jahrelang bemüht hatte. Die Art und Weise, wie Prof. v. Weizsäcker dieses Thema entwickelte, veranlasste mich, ihn um ein Gespräch zu bitten. Wir haben dann ein ausführliches Ge­spräch in Starriberg gehabt über den Fragenkomplex Theologie und Naturwissenschaft“.
Es ist daraus eine distanzierte Beziehung geworden. Ich habe ein ganzes Jahr lang an einem kleinen Kolleg von fünf Physik-Professoren bei Herrn Prof. v. Weizsäcker teilnehmen können. Dieses Kolleg hatte zum Thema die „Philosophischen Konsequenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnisse“. Das war natürlich für einen normalen Theologen wie mich in vielem Fachlichen einfach zu hoch. Aber die Offenheit von Herrn Prof. v. Weizsäcker hat mich ermutigt, ihn zu bitten, zu den inhaltlichen Problemen meines anstehenden Konfliktes mit der Kirche Stellung zu nehmen. Prof. v. Weizsäcker hat sich dazu bereit erklärt – gemäß der Anfrage des Spruchkollegiums. Mir war dabei von vornherein klar, dass ich mit Herrn Prof. v. Weizsäcker nicht jemanden benannt hatte, der mir nach dem Munde reden könnte. Aber gerade darin sah ich eine wesentliche Chance, unser Gespräch hier auf eine versachlichende Basis zu stellen, indem der Gutachter eben nicht in eine Richtung redet.
Die in dem Gutachten von Herrn Prof. v. Weizsäcker vorfindliche Solidarität mit meiner Position sehe ich in zwei Aussagen. Zu­nächst auf Seite 1 seine Feststellung:

„Viele Beobachter des Verfahrens, denen meist an den speziellen Ansichten von Dr. Schulz wenig gelegen ist, fragen sich gleich­wohl, ob ihr eigener Ort noch in der Kirche sein kann, wenn diese einem Mann wie Schulz die Kanzel verschließt. Die bloße Tatsache des Verfahrens ist für diese Beobachter ein Beleg für die alte Überzeugung von der autoritären Enge der Kirche.“
Damit ist von Herrn Professor v. Weizsäcker schon von Anfang an der hier anstehende Konflikt sozusagen entpersonifiziert zu einem Grundproblem denkender Menschen schlechthin gemacht.
„Ich muss mit der Möglichkeit“, so sein zweiter Satz, „rechnen, dass meine hier geschilderten Ansichten mir, wäre ich Pfarrer, ebenfalls ein Lehrbeanstandungsverfahren zuziehen würde. Jedenfalls aber bin ich, indem ich mir diese Ansichten gebildet habe, aus Überzeugung Glied der Kirche geblieben, ja in dieser Über­zeugung befestigt worden. Ich muss also wünschen, dass auch für Träger des Lehramts, die etwa in der hier geschilderten Richtung denken, Raum in der Kirche ist.“
Das Gutachten von Prof. v.Weizsäcker ist in der Tat also kein Plädoyer für Paul Schulz, sondern innerhalb eines theologischen Dissens ein Plädoyer für den andersdenkenden Menschen in der Kirche. An dieser Stelle treffen sich die Solidaritätslinien aus meiner Richtung und aus der Richtung von Herrn Prof. v. Weizsäcker.
Nun verursacht dieses Gutachten ohne Frage auch eine Verunsicherung, denn das Gutachten hat konträre Reaktionen ausgelöst. Leute, die der Anklage nahe stehen, haben in dem Gutachten die Verurteilung von Schulz gesehen. Es wurde sogar von einem „vernichtenden Urteil“ über Schulz gesprochen. Andererseits: Leute, die dem Angeklag­ten nahe stehen, haben dieses Gutachten als eine exzellente Ver­teidigung von Schulz verstanden und darum bittere Kritik an der Amtskirche abgeleitet.
Beides muss aus meiner Sicht als falsch angesehen werden. denn Weizsäcker spielt sich an keiner Stelle als eine Art Ringrichter auf, der der einen Partei den Sieg zuzusprechen gedenkt. Vielmehr sind seine kritischen Analysen und Beurteilungen als Gesamtes zu sehen. D.h. das Gutachten hilft in unserer Auseinandersetzung nur dann weiter, wenn es gerade in seiner beidseitigen Kritik anerkannt wird. Es darf also nicht ein einzelner Satz aus dem Kontext herausgelöst werden, um damit die andere Seite zu disqualifizieren. Dass diese Gefahr mittels dieses Gutachtens besteht, scheint mir offenkundig. Ich will nicht verhehlen, dass ich der Meinung bin, dass ein Mann wie Weizsäcker diese Gefahr hätte besser abschätzen und eben zum Schutz der Kontrahenten von vorn­herein bewusster Missdeutungen vermeiden müssen.

Wie schwer das ist, zeigt die Begründung von Herrn Prof. Lorenzen für seinen Verzicht auf ein schriftliches Gutachten zu diesem Verfahren in seinem Brief an Herrn Bischof Lohse. Er schreibt: „Lieber Herr Lohse, Sie werden verstehen, dass ich nach diesen beiden Proben der hermeneutischen Kunst des Spruchkollegiums keine Hoffnung habe, dass aus dem, was ich als Stellungnahme schriftlich einreichen könnte, nicht schließlich das Gegenteil herausgelesen würde.“
Nun zur Sache. „Die naturwissenschaftliche Substanz11, so schreibt Prof. Weizsäcker, „der Aussagen ist, wie es nicht anders sein kann, dünn. Man darf dem Verfasser nicht vorwerfen, dass die mit Fleiß gesammelten und im Ganzen zutreffend vorgetragenen naturwissenschaftlichen Kenntnisse doch stets den Eindruck des Angelesenen machen.“
Ich nehme diese Kritik an. Ich bin kein Naturwissenschaftler. Ich erlaube mir allerdings die kleine Bemerkung, wie man sich denn sonst das Wissen der großen Menge der naturwissenschaftlichen Kenntnisse aneignen soll, wenn nicht durch Anlesen. Selbst ein Naturwissenschaftler weiß das meiste durch Anlesen – aber das nur am Rande, weil es ein bisschen absurd klingt.
Bevor ich auf mein Verhältnis zur Naturwissenschaft eingehe, -ich zitiere noch einmal die für mich als Theologen wichtige Feststellung von Herrn Prof. v. Weizsäcker:“ Soll ich als Naturwissenschaftler zu einer solchen Theologie Stellungnehmen, so kann ich wenigstens nicht bestreiten, dass sie mit unserer wissen­schaftlichen Kenntnis vereinbar ist.“

Ich will damit deutlich machen: Es gibt viel Kritik von Prof. v. Weizsäcker an meiner theologischen Position. Meinen Versuch aber, als Theologe mit Naturwissenschaftlern sachgerecht ins Gespräch zu kommen, erkennt er an.
Nun bestimmt mich – entgegen häufiger derartiger Unterstellungen- keineswegs eine kritiklose naturwissenschaftliche Gläubigkeit. Zwar interessieren mich natürlich einzelne Erkenntnisse der Naturwissenschaft, besonders der Astrophysik, der Biochemie. Aber an keiner Stelle – auch nicht in meinen Büchern – habe ich auch nur ein einziges Mal Theologie gegenüber Naturwissen­schaft wegen konkreter einzelner Punkte infrage gestellt. Ich halte es schlichthin für billig zu sagen, die Theologie sei aufgehoben, weil die Naturwissenschaft in diesen oder jenen und in 33 anderen Punkten konkrete Einzelaussagen anders macht. Das ist nicht mein Problem.
Ich habe zur Naturwissenschaft ein ganz anderes Verhältnis. Ich will das kurz andeuten: Was mich an der Naturwissenschaft fasziniert, das ist ihre Fähigkeit, erkenntnismäßig nach vorne offen zu sein. Ein Naturwissenschaftler kann, wenn er neue wissenschaftliche Erkenntnisse hat, die alten wissenschaftlichen Erkenntnisse damit aufheben ohne seine Identität als Natur­wissenschaftler zu verlieren. Ganz im Gegenteil. Er gewinnt an Qualität als Naturwissenschaftler, wenn es ihm gelingt, die von ihm erkannte Wirklichkeit mit neuen Bildern auszudrücken. Dabei wird er die bisherigen Erklärungen der Naturwissenschaft keineswegs diffamieren, sondern wird sie historisierend an die Stelle stellen, an der sie innerhalb der Forschungsgeschichte ihren Ort haben. So haben z.B. Heisenberg und Freunde die mecha­nistische Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts historisiert, indem sie mit der Quantenmechanik die neuen physikalischen Erkenntnisse in neuen Modellen dargestellt haben.
D.H. das naturwissenschaftliche Denken ist in der Lage, sich von hinten wegzuwenden und seine Erkenntnisse nach vorne hin zu öffnen. Hier liegt für mich das Faszinosum naturwissenschaft­lichen Denkens gegenüber theologisch-dogmatischen Denkens: Unsere theologisch-dogmatische Art ist doch ständig die, dass wir alles, was wir 2U erkennen meinen, nach hinten hin an Aussagen messen, die irgendwann einmal in langer Vergangenheit gemacht und da dogmatisch-bekenntnismäßig festgeschrieben worden sind. Unser Problem als dogmatische Kirche ist deshalb dies, dass  wir einen festgeschriebenen Satz an Wahrheit saussagen haben, der von hinten her unsere Zukunft programmiert.
Das, was mich als Theologen am naturwissenschaftlichen Denken fasziniert und was in meiner Theologie zum Ausdruck kommen soll, ist die ^grundsätzliche Wegwendung von hinten weg nach vorn. Es gilt sich gerade im Reden von Gott nicht allein auf historische Positionen von Anno-Dazumal zu beziehen, sondern sich inieigenständigem Reden von Gott als Christ nach vorne hin zu verantwor­ten. Man verliert seine Identität als Christ nicht, wenn man zum Beispiel in der Entwicklung Lrkenntnissen andere Aussagen zum Weltbild macht, als man sie von alters her gelernt hat. Im grundsätzlichen Erkenntnisfortschritt naturwissenschaftlichen Denkens also liegt meine Beziehung zur Naturwissenschaft.
Das bedeutet, dass ich natürlich die einzelnen naturwissenschaft­lichen Aussagen ebenfalls als grundsätzlich relativ werte, denn auch die naturwissenschaftlichen Behauptungssätze sind, wie ja die großen Naturwissenschaftler – von Heisenberg bis Weizsäcker – sagen, nur vorläufige Bilder von der Entwicklung. Insofern ist das Gespräch mit der Naturwissenschaft für mich als Theologen eine gemeinsame Bemühung, sich in seinem Denken nach vorne hin zu öffnen. Deshalb auch letztlich meine Schwierigkeit, mich gleichsam unkritisch auf Bekenntnissätze nach hinten hin festzulegen. Ich kann Bekenntnissätze historisch einordnen und auch ihre Evidenz als historische Bedeutung sichtbar machen, Wirklichkeitsaussagen verantworten aber kann ich auch als The­ologe nur in nach vorne hin nachprüfbaren Feststellungen.
„Eine wesentliche Grenze“, so schreibt Professor v. Weizsäcker, „der Schulzschen Argumentation, liegt in seiner offensicht­lichen Unvertrautheit mit der Geschichte der philosophischen Theologie, von den Griechen bis zu dem Deutschen Idealismus.“ Ich nehme auch diese Kritik an. Ich bin kein Philosoph. Ich möchte dennoch die Kritik dadurch ein wenig einschränken, dass ich natürlich als Theologe aufgrund des Theologiestudiums mit seiner geistesgeschichtlichen Ausbildung ganz anders mit der Philosophie konfrontiert bin als etwa das Gros der Naturwissen­schaftler. Professor Weizsäcker bildet als Naturwissenschaftler und Philosoph eine absolute Ausnahme.
Bevor ich zeige, warum mich die Gottesfrage in der klassischen Philosophie in der Tat relativ wenig interessiert, will ich den Schwerpunkt meines philosophischen Interesses verdeutlichen. An der derzeitigen Philosophie interessieren mich besonders erkenntnis- und wissenschaftstheoretische .Fragestellungen der Versuch also, sich bewusst zu werden, was denn der Mensch tut, wenn er „denkt“, was er tut, wenn er „glaubt“, was das bedeutet, wenn er sagt: Ich „erkenne“. Ich meine, dass gerade die Christen in ihren Gesprächen aneinander deshalb leiden, weil sie so verschwommene Begriffsdefinitionen haben. Das hat sich auch in unseren Gesprächen hier gezeigt. Wir gebrauchen zwar zeitweise die gleichen Wörter, wir meinen damit oftmals aber etwas verschiedenes. Wir gebrauchen erkenntnistheoretisch nicht die gleichen Kategorien, selbst wenn wir die gleichen Vokabeln benutzen.
Deshalb müssen wir miteinander ganz anders in die Schule gehen, um definieren zu können, warum wir eigentlich etwas sagen und was wir meinen, wenn wir das sagen. Hier ist für mich eben die Sprachwissenschaft mit ihrer Logik des vernünftigen Redens von ganz besonderer Wichtigkeit. Deshalb finde ich es so außer­ordentlich bedauerlich, dass dieses Spruchkollegium es nicht für nötig gehalten hat, dazu Herrn Professor Dr. Paul Lorenzen zu hören als den hervorragenden Fachkenner auf diesem Gebiet.
Von diesem Schwerpunkt innerhalb der zeitgenössischen Philosophie her komme ich verstärkt zu der Erkenntnis, wie relativ alles Wissen grundsätzlich ist. Ich sage das bewusst als Theologe, der ja eigentlich in seiner Disziplin von der Absolutheit der Wahrheit ausgeht. Ich meine, wir Christen unterliegen einem unglaublichen Hochmut, wenn wir – ich hab das oft dargestellt -innerhalb der atemberaubend kurzen Zeit der Geschichte mensch­licher Bewusstwerdung meinen, dass gerade wir endgültig und letztgültig über die wesentlichen Fragen des Menschen und der Welt Bescheid wüssten. Auch wir wagen innerhalb eines riesigen Konzertes von Deutungen nur eine Deutung. Bestenfalls ist sie deshalb absolut, weil der einzelne sie für sich absolut setzt. Damit erreicht er in der Aussage aber keine allgemeine Absolutheit. Das aber verpflichtet den Denkenden, sich nach vorn offen zu halten.

Insofern bin ich nun aber bewusst Theologe, als ich versuche, zwischen den verschiedenen Bereichen Gesprächsmöglichkeiten herzustellen, Begrenzungen und Sperren zu überschreiten – etwa zwischen Naturwissenschaft und Philosophie. Es geht mir gar nicht darum, letztgültige Lösungen zu geben, sondern überhaupt den Dialog in Gang zu setzen. Insofern ist für mich die Aussage von Herrn Prof. Weizsäcker auf S.19 seines Gutachtens wichtig:
„Schulz hat ein Verdienst“, so schreibt er, „dass ich seinen kirchlichen Kritikern, wie ich fürchte, nicht zubilligen kann. Er hat erkannt, dass man als christlicher Theologe die moderne Wissenschaft und die gesamte moderne Bewußtseinshaltung voll ernstnehmen muss. Er hat, mit zugegebenermaßen unzureichenden Mitteln, mit dieser Erkenntnis praktisch ernstgemacht. Er hat gesehen, dass die in der neuen Theologie traditionelle Lösung des Problems durch eine regionale Abgrenzung „hier Theologie, dort Naturwissenschaft“ völlig unzureichend ist. Es mag sein, dass seine philosophische Naivität ihm diesen Durchbruch er­leichtert hat. Ich kann über einen Mann nicht den Stab brechen, der auf einem etwas zu billigen Niveau an einem Problem schei­tert, auf das, soweit ich sehen kann, kein heute Lebender die adäquate Antwort weiß.“
Diese Kritik nehme ich zugleich als Anerkennung an und beurteile das einmal hier aus meiner Sicht: Ich bin eigentlich stolz darauf, dass ein Naturwissenschaftler und Philosoph von solchem Rang sich überhaupt in der Lage sieht, mit einem Theologen über derart grundsätzliche Problematik ins Gespräch zu kommen. Dies war doch meine Absicht und mein Ziel seit meiner ersten Predigt zur Amtseinführung in St. Jacobi, Dass ich nicht die letzte Lö­sung weiß, dass ich auf einem „zu billigen Niveau“ agiere, das
kann aus meiner Sicht nicht auf meine Verurteilung zielen. Das müsste vielmehr zu dem gegenseitigen, gemeinsamen Bemühen führen, das begonnene Gespräch qualitativ besser weiterzuführen. Das ist mein Anspruch auch an dieses Spruchkollegium.
Ich habe nun drei „Zustimmungen“ und (tei „Widersprüche“zu den konkreten Inhalten des Gutachtens von Herrn Professor Weizsäcker formuliert. Damit möchte ich jeweils meine eigene Position noch deutlicher machen.

DIE ERSTE ZUSTIMMUNG: Der permanente geistige Umbruch. Fast Dreiviertel seines Gutachtens verwendet Prof. Weizsäcker darauf, den permanenten geistigen Umbruch in den zweitausend Jahren Kirchengeschichte zu verdeutlichen. Ich bitte das Spruchkollegium, dies einfach einmal zur Kenntnis zu nehmen: Die Geschichte der Kirche besteht in ständigen geistigen Um­brüchen. Nichts ist statisch innerhalb der Kirche – nie gewesen. Sie ist eingebunden in Kultur- und Ideengeschichte, eine Ent­wicklung voller immer neuer Ansätze. Das Wesen der Kirche liegt eben gerade darin, dass sie aus zurückliegenden Positionen immer wieder Brückenschläge nach vorne wagt, um nicht in alten Posi­tionen zu ersticken. Weizsäcker führt in einem historischen Aufriss eben dies als Wesensmerkmal der Kirche vor, so dass sich jeder Versuch, für immer an einer Stelle statisch stehen zu bleiben als geschichtlich blind erweist.
Ich selber habe diese sich ständig verändernde geistige Bewegung in meinem zweiten Buch „Weltliche Predigten“ nachzuzeichnen ver­sucht, indem ich die Geschichte der Theologie als ständigen Wechsel zwischen platonischer Philosophie und christlicher Philosophie dargestellt habe. Wie etwa in Augustins Theologie die platonische Ideenlehre, das „deus ante rem“ zugrunde liegt, wie dann Thomas von Aquino in der scholastischen Kirche einen völlig neuen Ansatz schafft mit der aristotelischen Vorstellung des „deus in re“, wie Luther dann noch einmal die platonische Theologie voll aufnimmt und Gott als das qualitativ Andere, das allem vorausgegeben ist, beschreibt, wie dann in der Auf­klärung versucht wird, Gott als das aristotelische „in re“ festzumachen, indem man einfach nur noch Naturwissenschaft treiben win, wie dann noch einmal der Karl Barthsche Gegenschlag das platonische „ante rem“ zuspitzt, indem Gott gegenüber dieser Welt als „das ganz andere“ beschrieben wird, wie schließlich im „Kritischen Rationalismus“ unserer Tage erneut der aristote­lische Ansatz zum Tragen kommt, selbst Theologen wie Bultmann und Teilhard von Chardin, Tillich, Bonhoeffer und Solle Gott als eine immanente Qualität der Wirklichkeit zu beschreiben suchen. Von Weizsäcker her muss man lernen, wie gerade die Geschichte der Kirche ein sich ständig veränderndes Ideenfeld darstellt.

DIE ZWEITE ZUSTIMMUNG: Ein Zurück ist tödlich. Eine Kirche, die sich auf veraltete Positionen zurückzieht, ist praktisch dem Tode geweiht – so Weizsäcker auf S. 15/16 seines Gutachtens. Zunächst schränkt er noch ein: Es gibt natür­lich auch dies: Die Kirche rennt falschen Modernismen nach. Die Kirche versucht falsch modern zu sein. Sie gerät immer wieder in die Schwierigkeit, dass sie so tut als wäre sie ganz vorne und hängt damit durchaus fragwürdigen Dingen nach. Aber, so sagt er, selbst dieser Modernismus ist als Öffnung des kirch­lichen Bewusstseins schlechthin unerlässlich. Seine Gefahr ist wohl vor allem, dass ihm die angstvolle Bewusstseinsenge, gegen die er sich zur Wehr setzt, in manchen seiner Reaktionen und Meinungen mit umgekehrten Vorzeichen, noch immer anhaftet. Es gibt die so natürliche Versuchung, den Vorurteilen der eigenen Zeit nachzulaufen. Es kommt vor, dass die in den alten Symbolen der Kirche angedeuteten Inhalte nicht zur Erfahrung gebracht, sondern auf den Schutthaufen geworfen werden. Die traditionali­stische Gegenbewegung aber wäre, wenn sie erfolgreich sein könnte, die größere Gefahr. Sie ist durch die Fehler des Modernis­mus scheinbar gerechtfertigt, aber ihr Erfolg würde die Kirche an den Ort ihrer historischen Belanglosigkeit bannen, und er würde die Sektenmentalität züchten, welche die Wahrheit zu wissen meint, weil sie ihre Symbole bewahrt. Dies treibt die Menschen modernen Bewusstseins aus der Teilnahme am kirchlichen Leben aus und schafft damit unter den Bleibenden die Majorität, die den eingetretenen Stillstand gutheißt.

Meine Herren» ich frage Sie einmal, wo Sie bei einer solchen fundamentalen Kritik an der Kirche als Spruchkollegium auch nur den Ansatz gemacht haben, Ihrerseits eine Antwort zu finden. Wie können Sie mit gutem Gewissen aus diesem Verfahren herausgehen, ohne sich bemüht zu haben, nicht nur auf Schulz hin irgend­welche alten Bekenntnisse nachzureden, sondern auf die in den Schulzschen Fragen sichtbaren Probleme der Zeit eine Antwort zu suchen.

DIE DRITTE ZUSTIMMUNG: Mut zur christlichen Aktion Nötig ist die mutige Aktion der Christen auf die Zeitgenossen hin, denn ein Stillstand wird nicht dauern – so Weizsäcker. Krisenjahre stehen bevor, Probleme in der ganzen Welt. Es ist mir unvorstellbar, dass Christen, denen das Wort Jesu noch etwas bedeutet, bei Angstreaktionen stehen bleiben. Wenn jemand, dann sollten Christen verstehen, was in dieser Welt Not tut. Die Christen in der Dritten Welt gehen uns hierin vielfach beispiel­haft voran. Gerade weil die Christen keinen rationalistischen Entwurf der Weltveränderung haben, hindert sie nichts, dort zur Stelle zu sein, wo Menschen gebraucht werden.“

Christentum – so sehe ich das – ist etwas, was im Gegenüber zum Kommunismus-Marxismus einerseits, aber auch gegenüber dem indu­striellen Kapitalismus andererseits Werte beinhaltet. die es auf Zukunft hin in unserer Gesellschaft besser zu verwirklichen gilt.- nicht durch irgendwelche modernen rationalistischen Sy­steme, sondern durch Handlungsweisen, die sich aus der Botschaft Jesu ableite. Allerdings meine ich darüber hinaus, dass die Kirche nicht allein in praktisch-diakonischer Arbeit ihre eigentliche Hilfestellung für eine zukünftige Gesellschaft finden wird, sondern bereit sein muss geistige, ja denkerische Solidarität mit den Zeitgenossen zu üben. Es muss ihr gelingen, in allen Problemen, die Menschen heute haben, ein offener Gesprächspartner zu werden, der Wege nach vorne mitgeht. Benn die Kirche hat immer an Zeitumbrüchen wesentlich mitgetragen, und damit an der gei­stigen Neugestaltung der Zukunft. Wer anders sollte es machen als eine offene Kirche, sich den Menschen, sich der Gesellschaft im höchsten Risiko als ein Gesprächspartner nach vorne zur Ver­fügung zu stellen? Eben deshalb, weil sie mit der christlichen Botschaft von der Liebe jenen Zentralwert hat, mit dem es sich lohnt, Zukunft zu gestalten.

DER ERSTE WIDERSPRUCH: Zur Gottesfrage.

Gerade die von Herrn Prof. Weizsäcker im philosophischen Kontext pluralistisch herausgearbeitete Gottesfrage trifft eigentlich nicht mein Problem, denn es interessiert mich eigentlich wenig, dass schon in den letzen zweitausend Jahren neue Wege der Gottes­lehre im christlichen und auch philosophischen Bewusstsein gegangen worden sind. Natürlich. Nur, das Problem liegt heute anders. Ich meine, dass sich durch die in der Aufklärung gegebene bedingungs­lose Rationalität die Frage nach Gott qualitativ verändert hat. Alle alten philosophischen Systeme basieren – selbst in ihrer Verneinung oder Relativierung auf einem negativ entwickelten Deismus. Die in der modernen Aufklärung durch naturwissenschaft­liche Erkenntnisse bedingte Verneinung Gottes schlechthin ist wesentlich ein anderer Anwurf an christliches Reden von Gott, unvergleichlich radikaler als je zuvor in allen Zeilen voraus. Deshalb würde ich – mit allem Vorbehalt – Prof. Weizsäcker wider­sprechen und sagen: Doch! Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse der Neuzeit stellen die Gottesfrage in anderen Dimensionen als das alle Philosophien in den letzten zweitausend Jahren getan haben. Das, was in den mikro- und makrokosmischen Dimensionen und Strukturen erkennbar wird, fordert wesentlich ein anderes Bemühen auf Gott hin zu reden, als in den letzten zweitausend Jahren. Hier liegt der Ansatz meines Redens von Gott.

DER ZWEITE WIDERSPRUCH: Zur Jesusfrage

Prof. Weizsäcker bestätigt, dass mein Bemühen um Jesus ein zen­trales Bemühen ist. Er wirft mir vor, dass ich – wenn ich es mal in meinen Begriffen sage – ein Jesus-Bild der bourgeoisen Gesell­schaft entwerfe und vertrete. Ich bestreite dies nicht. Ich be­finde mich nicht im Osten, etwa innerhalb des Buddhismus. Ich befinde mich auch nicht in Südamerika. Ich bin der Meinung, dass Christus dort und Menschen dort je ihr spezifisches Jesus-Bild und ihre spezifische Jesus-Botschaft verantworten müssen: Letzten Endes verantworten Theologen, Pastoren, Christen in Südamerika wie sie dort die Jesu Botschaft verstehen müssen – und nicht wir hier in Europa. Wenn die mich von dort fragen würden, wie ich Jesus interpretiere, dann würde ich ihnen mit aller Vorsicht antworten. Christen in Südamerika vertreten ihr Christsein, wie sie es dort verantworten können, und wenn es konträr zu mei­nem Christenbild steht.
Christen im Verhältnis zum Hinduismus oder Buddhismus werden ihr Christentum dort vertreten. Ich bin nicht deren Aufseher, selbst wenn ich der evangelischen Kirchenleitung angehören würde.
Aber ich bin hier gezwungen, in meinem Bereich so von Jesus zu sprechen, wie es mich und meine nächste Umwelt betrifft. Natürlich ist dieses mein Bemühen auch wieder relativ, phasen- und lokalspezifisch. Was wir zum Beispiel in den Hamburger 10 Geboten versucht haben, ist natürlich ein vorläufiger ethischer Entwurf, innerhalb einer bourgeoisen Welt. Allerdings meine ich – im Widerspruch zu Prof. Weizsäcker – dass Jesus selbst -wohl die Urgemeinde zum Teil – nirgends radikale Trennung von der Welt verlangt hat, also nicht, wie Prof. v. Weizsäcker es meint, es auf einen Bruch mit der Welt angelegt hat, als vielmehr auf einen Bruch mit jenen Instanzen, die meinen, diese Welt reglementieren zu müssen. Da liegt eben sein Konflikt mit den Pharisäern. Mit der Welt, mit den Menschen in dieser Welt hat Jesus kaum einen Konflikt gehabt, vielmehr hat er versucht, ihnen diese Welt neu zur Verfügung zu stellen. Das, was uns heute betrifft, ist seine Kritik an jenen Autoritäten und Instanzen, die meinen, diese Welt bestimmen zu müssen. Mit Jesus also gegen diese Instanzen, aber zugleich für die Menschen, die ihre Weltlichkeit neu entdecken.

DER DRITTE WIDERSPRUCH: Zur Kirchenfrage
In seinem Gutachten formuliert Prof. Weizsäcker: „Im Urteil der meisten Menschen unserer Zeit hat die Kirche ihre weltgeschicht­liche Rolle längst verspielt. Sie ist ihnen ein Relikt einer fernen Vergangenheit.“ Es gibt genügend Leute, die Weizsäcker gehört haben und wissen, dass er selbst derzeit nicht weit ent­fernt ist von solchen Aussagen, dass er z.B. formuliert hat: Es lohnt sich gar nicht mehr, in dieser Kirche die wesentlichen Fragen dieser Welt zu besprechen. Was soll es eigentlich? Die wesentlichen Entscheidungen fallen eh nicht mehr in dieser Kirche.
Dazu stehe ich immer noch im Widerspruch, weil ich der Meinung bin: Es sind viele meiner Kollegen – gleich nach dem Studium oder danach – aus dieser Kirche ausgeschieden mit der Absicht, die Kirche von draußen zu verändern. Ich bin der Meinung, wer mit seinem Christsein ernstmacht, kann die Veränderung der Kirche nur in der Kirche wollen. -Ich kann diesem Satz, die Kirche habe bereits verspielt, nur von innen her entgegenwirken. Gerade um diesen Satz zu widerlegen, habe ich selbst immer an der Kirche festgehalten. Meine Nachfolge Jesu spielt sich bewusst nicht außerhalb dieser Kirche ab, sondern qualifiziert in dieser Kirche. Ich werde deshalb nicht wegen irgendeines formalen Ordinationsgelübdes in der Kirche bleiben, sondern wegen meines Auftrages in der Nachfolge Jesu. Ich werde mich letztlich nicht messen an meinem kirchlichen Auftrag der Ordination, ich werde auch den Ordinationsauftrag messen an meinem Bewusstsein in der Nachfolge Jesu, und werde dieses solange in der Kirche durch­halten, wie ich das formal darf.

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